Über Übung, Prägung und das Ideal des Eigenen

Gedanken zur Animation und zum individuellen Ausdruck in einer kollektiv geprägten Ästhetik

Wenn wir zeichnen, animieren, komponieren, tun wir das nie im luftleeren Raum. Jede Bewegung unserer Hand ist von Bildern durchdrungen, die wir schon gesehen haben – von Ästhetiken, die uns berührt, geprägt oder sogar programmiert haben.
Im Bereich der Animation zeigt sich das besonders deutlich: Die visuelle Sprache des Anime hat in den letzten Jahrzehnten nicht nur einen Stil, sondern eine ganze Wahrnehmungsweise geformt. Linien, Gesten, Rhythmus, Mimik – sie alle sind kulturell codiert und zugleich emotional tief verankert.

Wir üben also nicht nur technische Fähigkeiten, sondern zugleich kulturelle Muster.

Wenn Studierende Animation üben, wiederholen sie unbewusst nicht nur Bewegungen, sondern Erwartungen: Wie ein Charakter „richtig“ aussehen soll, wie ein Gefühl „ausgedrückt“ werden muss, wie sich ein Moment „anfühlen“ soll. Diese Muster geben Sicherheit – aber sie schaffen auch Distanz. Denn das, was wir „kopieren“, trennt uns oft von dem, was wir eigentlich ausdrücken wollen.

Doch die Lösung liegt nicht im Bruch, sondern im Bewusstsein.

Kopieren ist nicht das Gegenteil von Kreativität – es ist ihr Anfang. Jede künstlerische Schulung beginnt mit Nachahmung, weil Nachahmung Wahrnehmung schärft. Das Problem entsteht erst, wenn die Kopie zum Ziel wird.
Die entscheidende Bewegung ist also die Wendung nach innen: das bewusste Durchlaufen des Fremden, um das Eigene darin zu finden.

Im Kontext von Bildungsprogrammen – wo meist individuell gearbeitet wird, während die professionelle Animation immer kollektiv entsteht. Das heißt in einem Team von ausgebildeten Animator:innen. So kann leicht ein Gefühl von „Nicht-Erreichen“ entstehen: als würde man etwas unvollständig oder „nicht richtig“ machen.


Doch dieses Gefühl ist selbst Teil des Lernprozesses.


In der Einsamkeit des Übens entsteht kein fertiges Werk, sondern ein Verständnis für Prozesse. Die eigene Linie, Bewegung oder Szene ist kein isoliertes Kunstwerk, sondern ein Echo – eine Form, die Antwort gibt auf die kulturellen Bilder, die uns umgeben.

Unterstützend ist hier der Gedanke, dass das „Nicht-Schaffen“ kein Scheitern, sondern eine Öffnung ist.
In Momenten, in denen nichts gelingt, tritt das Ideal des „Ich sollte schon mehr sein“ hervor. Gerade dann ist es fruchtbar, zu erkennen: Dieses Ideal ist kein Ziel, sondern eine Projektion – ein Bild, das aus der Kultur kommt, nicht aus dem Inneren.
Einen wahrhaft individuellen Ausdruck zu finden bedeutet also nicht, sich vom Einfluss des Anime oder anderer Stile zu befreien, sondern ihn zu integrieren:
zu verstehen, woher er kommt, was er in uns auslöst, und was wir damit sagen wollen.

Vielleicht ist das der eigentliche Sinn der Übung:
nicht Perfektion zu erreichen, sondern die eigene Wahrnehmung so zu verfeinern, dass man im Kopieren, Wiederholen und Variieren plötzlich sich selbst hört.


Dann entsteht aus der Nachahmung eine Begegnung.
Und aus der Übung – Kunst.

Oder darf Kunst einfach nur Spaß machen?

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